Blick durch einen Mauerspalt an der Gedenkstätte der Berliner Mauer. Man kann auf der anderen Seite das Gebäude der Berliner Mauergedenkstätte erkennen. Photo: Stefanie Jost

35 Jahre Mauerfall: Thilo, Schüler in Berlin-Frohnau

Ein Tag, der wie jeder andere schien

Es war der 9. November 1989, ein Tag, der zunächst wie jeder andere schien. Ich bin in meinem Zimmer in Berlin-Frohnau, beschäftigt mit einer eher alltäglichen Aufgabe: Endlich soll die Kindertapete einer erwachseneren Variante weichen. Ich tapezierte die Wände. Während ich den Leim auf die Tapete streiche, läuft das Radio leise im Hintergrund. Die 18.00 Uhr Nachrichten, sonst oft ignoriert alles wie üblich: Politik, Wetter, vielleicht ein paar Sportergebnisse. Doch plötzlich etwas, das mich innehalten ließ. Die Stimme von Günter Schabowski (Mitglied des Politbüros des ZK der SED):

… DDR-Bürger sollen ständige Ausreisen und Privatreisen ohne Vorliegen der bis dahin geforderten Voraussetzungen beantragen können, die Genehmigungen würden kurzfristig erteilt. »Wann tritt das in Kraft?« fragen Journalisten. Schabowski macht eine kurze Pause. Anscheinend ist er sich nicht ganz sicher, muss noch einmal nachsehen, dann antwortet er: »Sofort, unverzüglich!«…

Ich glaubte, mich verhört zu haben. Wir wohnten ca. 200 Meter Luftlinie von der Mauer entfernt im nördlichsten Teil von Berlin Reinickendorf. In Frohnau. Die Grenze war ein täglicher Teil meines Lebens. Wenn ich „in die Stadt“ also zum Ku-Damm wollte, war das lediglich mit der S-Bahn möglich, oder mit dem Motorrad „außen rum“. Umsteigen am S-Bahnhof Friedrichstasse. Auf den Bahnsteigen patrouillierten DDR-Grenzsoldaten mit Gewehren. Immer war mir mulmig an diesem Ort Es schien absurd – mein Leben lang war sie da und plötzlich, an diesem Abend, sollte sie fallen?

Kurz darauf klingelt das Telefon. Es ist mein Bruder, der damals im Wedding in der Tegeler Straße wohnt. Einen Steinwurf entfernt vom Übergang Invalidenstraße. Wir verabreden uns für in zwei Stunden genau dort, mit den Motorrädern.

Vergessen war die Tapete und die Aussicht auf ein neues renoviertes „erwachsenes“ Zimmer. Ich suchte meine ganzen Klamotten zusammen, es war immerhin Anfang November und ich wollte Motorrad fahren. Also Lederhose, Endurojacke mit Futter, die dicken Handschuhe, ein Halstuch und die Sturmhaube unter dem Helm.

Ein großes Abenteuer!

Draußen schlug mir die kalte Luft entgegen. Den halben Tag hatte es leicht geregnet nun war es nur noch kalt. Aber die Aussicht auf die unbekannte andere Hälfte meiner Stadt ließ das vergessen.

Ich fuhr Richtung Wedding, zur Invalidenstraße, wo der Grenzübergang lag. Schon von weitem konnte ich die Menschenmassen sehen, die sich zu den Übergängen drängten. Ein unaufhaltsamer Strom aus lachenden, weinenden, jubelnden Menschen. Die Grenzsoldaten wirkten überfordert, als könnten sie selbst kaum glauben, dass ihre Zeit vorüber war. Ohne viel Aufhebens ließ man uns passieren.

Hier war ich nun. Eigentlich eine neue Stadt, die mir immer fremd und unerreichbar war. Der Gegensatz zu West-Berlin war sofort spürbar: Die Straßen, die Gebäude – alles wirkte grauer, stiller, fast wie in einem anderen Zeitalter. Wir waren nicht die einzigen. Überall sah ich West-Berliner Autos, Motorräder, Fußgänger, die neugierig durch die Straßen zogen.

Ich weiß nicht genau, wie lange wir unterwegs waren. Vielleicht 3 Stunden. Hier und da hielten wir an und sahen auf unseren alten Falk-Stadtplan. Immer schwang ein wenig die Furcht mit, nicht zurück nach West-Berlin gelassen zu werden. Aber irgendwie war das egal. Ein großes Abendteuer!

Der nächste Tag. Zurück in die Schule. Alessandra, die Tochter des italienischen Botschafters in Ost-Berlin erzählte, was hinter den Kulissen los war und wie sie ohne Kontrolle durchgelassen wurde, um in die Schule zu kommen. An normalen Unterricht war nicht zu denken. Alle erzählten, was sie am Abend gemacht hatten. Lehrpläne und Unterrichtseinheiten wurden umgeschmissen. Fernseher in die Klassenzimmer gerollt, um die Nachrichten zu verfolgen.

Noch tagelang fuhr ich nachmittags zum Brandenburger Tor um zu beobachten, wie die Menschen auf der Mauer tanzten und mit kleinen Hämmern versuchten diese einzureißen.

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