Viele Gläser Orangenmarmelade stehen auf einem Tisch. Ein Glas steht im Vordergrund und ist im Fokus. Warme Töne. Man kann die Orangenscheiben noch im Glas erkennen. Photo: Rob Wicks, Unsplash

35 Jahre Mauerfall: Meike, Bitterorangenmarmelade

Fiebertraum

Das Fieber ist gestiegen. Ich muss endlich wieder eine Tablette nehmen. Ich träume unruhig, schlafe, schwitze, schlage mit meinen Armen um mich, wälze mich im Bett. Dann werde ich wieder wach. Der Durst quält mich, ganz langsam schleppe ich mich in die Küche und trinke wie eine Verdurstende meinen abgestandenen kalten Tee. Langsam geht es mir etwas besser.

Ich schalte den Fernseher ein. Wieder läuft eine der unzähligen politischen Sendungen und Pressekonferenzen. Sie sind das Einzige, das mich in den letzten Tagen wachgehalten hat. Diesmal ist es Günter Schabowski, er fläzt an seinem Tisch, die Brille halb auf der Nase, damit er noch über sie hinweg das internationale Journalistenpublikum sehen kann. Wie immer kommt er bei mir in seiner Art arrogant rüber. Interessiert konzentriere ich mich aber auf seine Worte. Es geht um die eben vom Zentralkomitee der SED beschlossenen Reiseregelungen. Er spricht darüber, dass man es für unhaltbar hält, dass so viele DDR-Bürger über Ungarn oder die ČSSR ausreisen und unserem Land den Rücken kehren - in mittlerweile riesiger Zahl.

Ja, auch meine Freundin kam von einem Urlaub nach Ungarn nicht wieder zurück. Es hat mich traurig gemacht, dennoch konnte ich es verstehen. Sie hatte Verwandte in der Nähe von Stuttgart. Man bot ihr als Lehrerin sofort eine Arbeit in der dortigen Grundschule an, eine Wohnung wäre auch kein Problem. Für mich als ihrer Freundin bedeutete es, sie vielleicht nie wieder zu sehen.

Pressekonferenz

Neugierig versuchte ich, der Pressekonferenz inhaltlich zu folgen. Er sagt: „Und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.“

Während ich mich frage, wie und ab wann das losgehen soll, spricht er weiter: “Also, Genossen, mir ist das hier so mitgeteilt worden, dass eine solche Regelung heute schon verbreitet worden ist, sie müsste eigentlich schon in Ihrem Besitz sein; also Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reiseanlässen und Verwandtschaftsverhältnissen beantragt werden, die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt.“

Während ich mich weiter frage, ab wann das denn in Kraft tritt, fragt ein Journalist genau das, gespannt wie alle im Saal. Völlig unvorbereitet, scheint es mir, trifft diese Frage Herrn Schabowski. „Das tritt nach meiner Kenntnis …   ab sofort, unverzüglich …  !

Ähmm. Fragezeichen in meinem Kopf. Keine Angaben über das Wie? Brauch ich einen Pass, ein Visum? Was ist mit den Menschen wie ich, die keine Verwandten im Westen haben. Wie soll ich eine Reise in die Alpen bezahlen, wenn ich keine Verwandten dort habe? Hotel kann ich mir nicht leisten, ich habe keine D-Mark. Ach, das ist doch alles nüscht, denke ich. Irgendwie enttäuscht, dass das doch wieder nur für die Menschen ist, die eben jemanden haben, der ihnen den Aufenthalt ermöglichen kann. Ich schalte den Fernseher aus, das Fieber ist wieder gestiegen und schlafe unruhig weiter.

Unglaublich!

Am nächsten Vormittag klingelt es an meiner Wohnungstür. Meine Freundin steht davor, strahlend, lächelt sie mich an, sie sieht einfach glücklich aus. Noch während sie die Schuhe auszieht, fragt sie mich: Meike, rate mal, wo ich gestern Abend bis eben war?“ Ich habe keine Ahnung und frage, ob sie jemanden kennengelernt hat. Sie: „NEIN! Du glaubst es nicht. Ich habe gestern Abend am Kurfürstendamm mit Hunderten Menschen gefeiert. Wir haben Sekt getrunken und wildfremde Menschen umarmt. Es war unglaublich. So viele fröhliche und aufgeregte Menschen habe ich meinen Lebtag noch nicht gesehen. Wir haben richtig gefeiert. UNGLAUBLICH!“

Ja, das ist unglaublich. Fassungslos höre ich zu, was sie in der Nacht erlebte, ehe ich den Fernseher anschaltete und im SFB die Berichte von Ost- und Westberlinern höre. Ich freue mich und denke auch immer wieder: unglaublich!

100 D-Mark Begrüßungsgeld

Etwa eine Woche nach diesem aufregenden Tag bin ich tatsächlich zum ersten Mal auf dem Weg nach Westberlin. Meine Nachbarin, sie ist meine behandelnde Ärztin, hat mich einen Tag länger krankgeschrieben und zeigt mir ihre alte Heimat, Berlin-Wilmersdorf. Wir laufen über die Oberbaumbrücke und steigen am Schlesischen Tor in die U1 ein. Sie erzählt viel und zeigt mir alles. Für mich ist einfach alles neu. Wir fahren durch diesen fremden Teil der Stadt, es riecht anders, die Menschen sind bunter, es ist internationaler. Ich bin richtig aufgelöst und aufgedreht.

Meine Nachbarin zeigt mir ihre alte Schule und ihre Wohngegend in der Nähe der Uhlandstraße. Und dann sagt sie: „Und jetzt zeige ich dir noch ein Kaufhaus.“ Ein Kaufhaus? Okaayy?

Zuerst stehen wir noch in einer Bank am Tauentzien an, um mir meine 100 D-Mark Begrüßungsgeld abzuholen. Unfassbar. Dann sind wir an dem Kaufhaus, das sie mir zeigen wollte. Was bedeutet KaDeWe eigentlich, frage ich. Sie erklärt es mir und sagt, dass wir uns das jetzt anschauen. Wir fahren die Rolltreppen hinauf bis in die Feinschmeckerabteilung. Ich kam mir vor wie in einer anderen Welt, ich sah Früchte, Fische, Kuchen, Brotsorten, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Alles war lecker, appetitlich. Ich war vollkommen überfordert von diesen Eindrücken. Ich wollte etwas für mich mitnehmen und entschied mich für ein Miniglas Bitterorangenmarmelade. Keine Ahnung, warum ich mich dafür entschied. Aber der Geschmack dieser Marmelade erinnert mich bis heute an diesen Tag und an den Mauerfall.

Wenn ich heute durch Berlin fahre, weiß ich teilweise nicht mehr genau, wo entlang die Mauer mal verlief. Das ist gut so. Ich möchte sie nicht wiederhaben.

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